Die Gruselnacht von Ertingen

Aus Ertingen kommen besonders viele der alten Legenden, die zudem einen ausgewiesenen Gruselfaktor haben. So mag es mir verlaubt sein, die alten Geschichten (Der Überzählige | Der Hakenmann | Hexen auf dem Mühlrad | Der Bröller | Der Geist bei der Säge | Der Drache im Keller) in einem neuen Gewand zu einer Gruselgeschichte zu verweben, ohne den Inhalt zu sehr zu verändern.

Es geschah alles an jenem unheilvollen Tag, da die Wasserhexe von Ertingen ein Kind in die Tiefe riss. Jener Tag, an dem der Teufel höchstpersönlich in Ertingen auf einer Hochzeit tanzte und die Braut entführte. Doch die Geschichtsschreiber haben einige Erzählungen vergessen. Was darüber hinaus in ferner Vergangenheit während dieser dunklen Rauhnacht kurz nach der Wintersonnenwende passierte, davon berichten diese dunklen Geschichten.

Dämonen von Ertingen
Dämonen von Ertingen

Ein paar Burschen, an der Zahl zwölf, ritten zur dunklen Jahreszeit um Mitternacht aus. Einmal um den Stock, wie man bei uns sagt. Sie suchten Spaß und vielleicht den ein oder anderen Umtrunk. Es war alter Brauch, sich in den Rauhnächten zu verkleiden. Sie banden sich Erbsenstroh um, trugen alte Schürzen und Schlapphüte und gingen es zuweilen auch mal derber an.

Nach einigen Lebenswässerles führte sie der Weg zur holden Bäckerstochter. Mit Gejaule und Geklappere lärmten sie so lange, bis sich ein Fenster öffnete. Es bot sich ein kleiner Flirt und etwas Birnenbrot. Beim nächsten Fenster gab es einen edlen Tropfen und danach verlangten die Burschen mehr. Und man gab ihnen mehr. Zwölf Becher wanderten hinab, die Kehle hinunter und wieder nach oben. Da rief einer: „I wett no oin!“ Und wo mir grad beim Gäben sind, zoiget doch mal no meh!“ (Ich will noch einen! Und wo wir gerade beim Geben sind, zeigt doch mal mehr!“)

Die Burschen wunderten sich:  Wer spricht diese derben Worte? Niemand kannte den 13. Reiter, der sich der Gruppe offenbar angeschlossen hatte. Der Fremde grinste stumm auf seinem Pferd, das langsam im Dunkel der Nacht verschwand.

Ungläubig und von einer aufkommenden Panik erfasst, schauten sich die Ertinger Burschen gegenseitig an. Ohne ein Wort zu sagen, ritten sie schneller als sonst ins Dorf zum Wirtshaus Hohstub‘. Außer Atem erzählten sie dem Wirt von der Begegnung. Da drehte sich ein alter Bauer um, der sonst immer ganz still sein Bierchen trank, und sagte: „Doa hont ihr aber Glick ghet! Des isch dr ‚Ieberzellige‘ gewäe! Des isch fei de Deifel gsei!“ (Da hattet ihr aber Glück! Das war der ‚Überzählige‘! Das war nämlich der Teufel!)

Überzählige
Überzählige

Einige der Burschen bedienten sich am Bier, andere sackten zusammen. Doch keiner traute sich mehr aus dem Wirtshaus.

Die Burschen und der Wirt gesellten sich um den alten Bauern, der noch mehr über den Teufel wusste: „Der Ieberzellige zoigt sich immer, wenn au dr Hakemah in der Donau dunda hockt!“ Der Bauer nickte eifrig: „Und der isch au doa!“ (Der Überzählige zeigt sich immer, wenn auch der Hakenmann in der Donau unten hockt… Und der ist auch da!), rief der alte Bauer aus und trank den Bierkrug leer, als gäbe es kein Morgen. Und wer weiß?

Die Runde wollte mehr über den Hakenmann wissen. Der alte Bauer erzählte, dass er tief im Wasser der Donau auf Beute warte. Unweit von Ertingen entfernt, gab es viele tiefe Stellen in der Donau – das wusste er. Die sogenannten Gumpen zögen die Boote in die Tiefe, deshalb gehe dort niemand fischen. In den Gumpen drehe sich das Wasser so schnell, dass sich ein verheerender Strudel bildete. Ein Strudel, der sich so schnell drehen würde, wie der Teufel bei der Hochzeit.

„Wie weit nab goats doa?“, fragte einer. (Wie weit runter geht es da?)

„Des woiß fei niemat“, antwortete der alte Bauer. „Und niemat goat dicht gnuag nah, weil denn packt di der Hakemah mit seinem Haka und zieht di nab – nab in d‘Höll! Denn i hon en ghert. De Deifel hockt doa dunda und fluacht firchterlich!“ (Das weiß niemand. Und niemand geht dicht genug ran, weil Dich sonst der Hackenmann packt und mit seinem Haken runterzieht – runter, in die Hölle. Denn ich habe ihn gehört. Der Teufel hockt da unten und flucht fürchterlich.)

Der Hakenmann
Der Hakenmann

In derselben Nacht, der Nacht vor Weihnachten, machte sich der Müller von Ertingen zur Mühle auf. In dieser Nacht sollte das Getreide gut mahlen können, die Schwarzach führte viel Wasser mit hoher Geschwindigkeit. Das muss ausgenutzt werden, dachte sich der Müller, zumal es für die Jahreszeit ganz und gar untypisch war.

Viel Schlaf, so hatte es der Müller von Kindesbeinen an gelernt, sei schlecht für die Seele. Obwohl seine Frau protestierte, die Mühle während der Rauhnacht vor dem Heiligen Abend anzuwerfen, war der Müller nicht davonabzubringen.

„D’Hexa sont im Wald vo Schacha, glei hintre dr Mièhl!“ (Die Hexen sind wieder im Wald von Schachen, gleich hinter der Mühle!)“, rief sie ihm zur Warnung nach, doch der Müller war ein aufrechter Christ, der nur die Heilige Dreifaltigkeit gelten ließ.

Gerade als die Kirche im Dorf zur Mitternacht schlug, der Müller legte die Mehlsäcke bereit, hörte er ein schreckliches Gelächter. Es klang furchteinflößender als alle unheiligen Waldgeräusche gleichzeitig. Und es kam näher. Dann verstummte es, wie die Ruhe vor dem Sturm. Der Müller lauschte genau, doch da war nur noch ein Knirschen zu hören. Das Geräusch von Holz, das unter starkem Druck steht.

Dann wurde es ihm gewahr: die Mühle drehte sich nicht mehr. Das übliche Klappern war weg, die Mahlsteine, die Welle – alles stand still. Er eilte nach draußen und sah drei grausige Hexen auf dem Mühlenrad sitzen. Das Wasser hinter der Mühle türmte sich auf und schwappte in Wellen immer wieder hinüber. Es würde nicht mehr lange dauern, dann würde die Mühle im Wasser versinken.

Er sank auf seine Knie hinab und schwur mit geschlossenen Augen, fortan ein gutes und friedliches Leben zu führen. Er würde Gerechtigkeit gegen jedermann üben und niemals mehr die Hand erheben. Ein schallendes Lachen ließ ihn die Augen wieder öffnen, da erblickte er die Welle des Bachwassers, die ihn fortriss.

Im Glauben an Jesus Macht und mit der Wut, die ihm die Nässe brachte, holte er einen Knüppel, machte seinen Hund los, und begab sich noch immer durchnässt in eisiger Nacht auf den Weg zum Schachen-Wald. Schon nach wenigen Metern sah er im Dunkel einen hellen Fleck, der sich bewegte. Der Fleck flog auf ihn zu, es war eine Hexe mit klirrendem Geschrei. Der Hund riss sich los und wetzte zurück zur Mühle. Der Müller tat es ihm gleich und entkam mit dem Schrecken. Das Herz pochte, doch der Frost hatte sich tief ins Fleisch gefressen. Mit letzter Kraft erreichte er die wärmende Stube. Es hätte nicht mehr lange gedauert bis er dem Kältetod in die Arme gefallen wäre.

Hexen auf dem Mühlrad
Hexen auf dem Mühlrad

Unter den Ältesten in Ertingen erregte ein dumpfes Brodeln die Besorgnis und der Ton vermittelte mehr als alles andere Verderbnis. Der Wind trug das „Bröller“ von den Höhlen an der Donau herüber zu den Häusern. Die Dorfältesten, davon aufgeweckt, versammelten sich. Niemand wusste, wo die Höhle genau lag, aus der das Geräusch kam. Aber alle wussten um die Bedeutung des Bröllens.

Irgendwo, versteckt in dem verzweigten Höhlensystem, lag ein großer See. Die mächtige Höhle hatte die Donau aus dem Kalk gewaschen. Es war der Zugang zur Hölle. Das Geräusch brandete auf, wenn das Wasser des Sees zu kochen begann. Das Wasser schwappte hoch und drohte in einer gewaltigen Welle die Stadt und die Umgebung zu verwüsten. Vor langer Zeit, über die Generationen in Erzählungen wiedergegeben, schoss das Wasser aus allen Öffnungen und Seen der Umgebung. Und es geschah nicht das erste Mal. Die alten Geschichten erzählten auch von einer derart großen Sintflut.

Ein paar Spitzbuben belauschten die alten Männer wie sie über die Situation berieten. Sie stürmten auf die Straße und riefen belustigt: „Dr Bröller isch los!“ Die Menschen rannten, teils auch ohne ihre Habe, einfach los – wie vom Teufel verfolgt. Nur mit dem, was sie am Leibe trugen, stürmten sie aus der Stadt hinaus in Richtung der Wundertanne. Die ersten waren schon angekommen, da entlarvte man den Schabernack. Der Rat hingegen wusste nicht, ob es nicht doch noch eine Warnung geben würde.

In dem Wirtshaus dachten die Männer, die anderen hätten nun auch den Teufel gesehen, und beobachteten das Treiben. Es war der Mann aus der Sägemühle, der abgesandt war, über den Fehlalarm zu informieren.

Als ihm die Burschen die Geschichte vom Überzähligen berichteten, wusste der Säger ebenfalls von einem widerfahrenen Grusel zu erzählen. Schon seit Jahren habe er das Gefühl, dass es in der Sägemühle spuken würde. Aber er fürchtete, niemand würde ihm glauben. Der Säger beschrieb den Geist als glühende und hochgewachsene Gestalt, die einen Pfahl auf ihrer Schulter trüge. Einen Pfahl, wie er zur Grenzmarkierung eingesetzt wird. Mit großen Augen sagte der Säger: „Und no kreist der Goischt mi ei und schreit: ‚Wo soll en na dua?‘“ (Und dann kreist der Geist mich ein und schreit: „Wo soll ich ihn hintun?“)

Der Säger sagt leise: „Nie hon i dem a Antwort gäe, bis I heit aufd Dunkelheit nah, Gduld verlora hon. I hon gsagt: ‚Auf d’Kuhweid naus! Doa, wo d’en hergnomme hoasch!‘ Der hoat mi mit große Auga aguckt und isch verschwunda! Wia vom Erdboda verschluckt!“ (Nie habe ich geantwortet, bis ich es heute zur Dämmerung tat, da ich die Geduld verloren habe. Ich sagte: ‚Auf die Kuhweide hinaus. Dahin wo Du ihn hergenommen hast!‘ Er schaute mich mit großen Augen an und ist verschwunden! Wie vom Erdboden verschluckt!“

Der Blick wurde trübe, als er sich weiter erinnerte, wie er später noch das Vieh fütterte. Der Geist stand plötzlich neben ihm, sodass der Säger beinah zu Tode erschrak. Er hatte ein Büßergewand an und dankte dem Mann für die erlösenden Worte. Er sei nun im Himmel, habe er ihm berichtet, und das Alles dank der ausgesprochenen Worte. Der Geist streckte dem Säger die Hand entgegen. Nur kurz spielte der Säger mit dem Gedanken, sie zu ergreifen. Doch eine Geisterhand berührt man schließlich niemals. Er hielt dem Geist den Stiel der Heugabel entgegen und der Geist griff danach. Mit einem Zischen flammte das Holz auf. Der Handabdruck des Geistes hatte sich in das Holz gebrannt. Der Geist kam dann nicht wieder.

Geist bei der Säge
Geist bei der Säge

Kaum waren die Worte verhallt, schepperte es im Keller des Wirtshauses. Es war laut, aber niemand glaubte etwas Schlimmes dahinter. Doch tatsächlich war das Böse längst im Keller des Wirtshauses angekommen.

Die Wirtin schickte die Magd hinab, nachzusehen und wo sie gerade da sei, solle sie auch eine Schüssel Kraut aus dem Fass mitbringen. Es machte sich der Hunger breit. Doch die Minuten vergingen und die Magd kam nicht zurück.

„Guck doch moal, wo se isch!“, befahl sie dem Knecht. (Schau nach, wo sie ist!) Doch auch er kam nicht wieder. Sie hatte eine ordentliche Katastrophe im Sinn, als sie nach dem Verbleib der beiden Ehalten (Dienstleute) schaute. Der Geruch von Eisen stieg ihr in die Nase, als sie den Keller betrat. In der Stille der klammen Atmosphäre, entzündete sie eine Kerze und schaute sich um – niemand war da. Sie ging zum Krautfass und erspähte im Dunkel des Ecks zwei leuchtende Punkte. Augen, deren Fratze blutrot aus dem Dunkel hervortrat. Noch bevor sie einen Schrei ausstieß, rissen die zahllosen Zähne im Maul des Monsters ihren Kopf ab, um den Rest mit zwei, drei Happen zu verschlucken.

Der Wirt wurde nervös. Alles muss man selbst machen, stammelte er und verließ die Kundschaft, um nach dem Rechten im Keller zu sehen. Doch kam ihm das Abbleiben seltsam vor. Er kombinierte die Zwischenfälle in Ertingen mit diesem seltsamen Vorfall. Kurzerhand beschloss er den Ratschlag seiner Uroma zu beherzigen.

Er nahm einen breiten Holzkeil von der Holzbeige (Holzstapel) und einen Spiegel von der Wand. So bewaffnet, öffnete er die Falltür hinab in den Keller ohne Wiederkehr. ‚Besser hon und it brauche, als brauche und it hon‘ (Besser haben und nicht brauchen, als brauchen und nicht haben), war sein Motto. Die Kerze seiner Frau leitete ihm den Weg. Den Blick nach unten gerichtet, erspähte er im Augenwinkel das Spiegelbild eines entsetzlichen Wesens, das geräuschlos von der Decke auf ihn zukroch.

Der Wirt schlüpfte hinter den Spiegel, der ihm als Schild diente und das hässliche Wurmgetier erstarrte vor seinem eigenen Blick. Der Wirt verkeilte das Stück Holz und erschlug das Monster mit einer Schaufel zwischen die Augen. Sofort brach es zusammen. Aber um sicher zu sein, schlug der Wirt solange, bis nur noch Matsch blieb.

Monster bei der Säge
Monster bei der Säge

Viele Jahrzehnte später, als die alten Erzählungen schon fast in Vergessenheit geraten waren, setzte sich ein Mann zum Ziel, die Überlieferungen niederzuschreiben – bemüht, das alte Wissen zu bewahren. Unter der Überschrift „Ertinger Gruselnacht“ schrieb er Nacht für Nacht an der Überlieferung. Er wollte vor Allerseelen wieder zurücksein, doch die Vielzahl der Geschichten band ihn an das Pult. Das Reisen bei Nebel bot sowieso selten einen Vorteil.

Zur Mitternacht am Vorabend von Allerheiligen, sackte die Temperatur empfindlich ab. Den Schreiber fröstelte es, doch er blieb sitzen. Dann störte ein Kratzen am Fensterladen seine Konzentration. Noch darüber wundernd, begann der Tisch zu zittern. Lautes Atmen erfüllte den Raum, ein Bröllen war zu hören und die Flamme neigte sich zur Seite, als würde sie eine unsichtbare Hand nach unten drücken.

Aus dem Schatten des Zimmers traten seltsame Gestalten heraus, einige genau so, wie sie sich der Schreiber vorgestellt hatte. Der Hakenmann, das Kreischen der Hexen und im Fenster spiegelten sich die leuchtenden Augen des Schlangenmonsters.

Der Schreiber wollte das Buch zuschlagen, doch eine glühende Hand packte sein Handgelenk und drohte einen Pfahl durch ihn zu treiben. Er flüsterte: „Du hoaschs doch gwisst – jetzt isch’s z’spät!“

Die Kerze erlosch.

Am nächsten Morgen fand man die Schreibstube leer. Nur das Manuskript lag auf dem Tisch – die Tinte noch nicht getrocknet. Die letzte Zeile, geschrieben mit zittriger Hand, ist unvollständig:

„Die Dämonen sind da, niemand kann sie leugnen. Sie sind unter …“ Doch der Tintenkleks darüber verrät nicht mehr.

[Die Geschichte mit dem Schreiber ist meine Erfindung und keine alte Legende]

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